Ein neues Bild von Bildung
In unserer Gesellschaft ist „Lernen“ für die meisten Menschen mit vorgegebenem Unterricht nach vorgegebenen Bildungsplänen verbunden. Dazu sind vorgegebene Lehr- und Lernmittel nötig, die zu vorgegebenen Zeiten in einem vorgegebenen Gebäude benutzt werden: Das nennen wir „Schule“. Deshalb denken viele Menschen beim Thema „Bildung ohne Schule“ (auch „Freilernen“ genannt) an das klassische Homeschooling – „Schulunterricht zu Hause“, also Unterricht am Küchentisch oder in einem von den Eltern eigens eingerichteten Lernzimmer.
Bildung ist aber viel, viel mehr als das. Sie kann auch völlig anders aussehen. Wir müssen uns deshalb einen neuen Blick auf Lernen und auf Bildung aneignen, denn Lernen findet ständig statt. Wir Menschen können gar nicht anders, wir lernen von Anfang unseres Lebens an, immerzu. Die Wissbegier und der Entdeckerdrang sind uns angeboren.
Wir können das bei kleinen Kindern beobachten. Sie brauchen keinen Unterricht, um Krabbeln, Sitzen, Laufen oder Sprechen zu lernen. Die komplexesten Lernleistungen ihres gesamten Lebens vollbringen sie lange vor Schulbeginn, ganz von selbst! Nötig ist dafür nur ein sicheres, stabiles, liebevolles Umfeld. Der britische Entwicklungspsychologe Alan Thomas fragt: „Warum verkehrt sich die Pädagogik im Alter von fünf oder sechs Jahren ins Gegenteil – vom komplett autonomen Lernen für alle Kinder hin zu einer komplett anderen Art des Lernens? Wenn etwas funktioniert, sollte man es nicht ändern.“
Die Realität in Deutschland
Die deutsche Gesellschaft mit ihrer gesetzlich vorgegebenen Schulbesuchspflicht macht es jungen Menschen im schulpflichtigen Alter schwer, einen Bildungsweg ohne Schule zu gehen. Für viele ist die Vorstellung, dass sich junge Menschen ohne Schule und sogar selbstbestimmt bilden, undenkbar. Und dennoch gibt es inzwischen auch in Deutschland viele junge Menschen, deren Bildungsweg zeigt: Man kann sich ohne Schule bilden, auch über die „Basics“ Lesen, Schreiben, Rechnen hinaus. Die Zahl der jungen Menschen, die sich ohne Schule bilden wollen, wächst.
Manche Eltern treffen schon vor dem Beginn der Schulpflicht die Entscheidung, ihrem Sohn oder ihrer Tochter die Wahl zu lassen, sich selbstbestimmt und selbstorganisiert zu bilden. Diese Eltern machen sich oft schon von Geburt an kundig, welche alternativen Bildungswege möglich sind. In anderen Familien entsteht der Entschluss zur selbstorganisierten Bildung erst nach dem Schulbeginn, weil eine Tochter oder ein Sohn den Schulbesuch ablehnt. Das kommt in allen Altersstufen vor. Häufig wird ein „Nein“ zum Schulbesuch kurz nach der Einschulung oder sogar bereits im Kindergarten geäußert. Vielen Eltern fällt es schwer, dieses Nein ernstzunehmen und zu akzeptieren. Oft kommt es erst nach einem langen schulischen Leidensweg zu einer Lösung.
In manchen Fällen kommt der Wunsch nach Bildung ohne eine Institution noch später auf. Zunehmend entscheiden sich auch Jugendliche und junge Erwachsene dazu, sich auf eine Abschlussprüfung selbstständig vorzubereiten oder auch ihre Ausbildung bzw. ihr Studium in die eigene Hand zu nehmen.
Informelle Bildung – ist das überhaupt möglich?
Junge Menschen, die sich selbstbestimmt bilden, lernen vorwiegend informell, also ohne strukturierten Unterricht oder formelle Belehrung. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Lernprozesse bei informellem Lernen meist nicht linear ablaufen. In Wirklichkeit tun sie das in der Schule übrigens auch nicht, aber die Schule erhält zumindest die Fiktion eines bruchlosen, immer weiter fortschreitenden Stufengangs der Bildung aufrecht.
Tatsächlich sind brüchige, non-lineare Lernprozesse ebenso effektiv, vielleicht sogar effektiver als der aus der Schule bekannte Prozess, der formal strukturiert und seinem Ideal nach linear, stets sichtbar und kontrollierbar abläuft. Jungen Menschen, die sich informell bilden, wird oft unterstellt, dass sie gar nichts lernen. In Wirklichkeit sind informelle Lernprozesse von außen meist nur schwerer wahrnehmbar. Unsere Erfahrung bestätigt dies: Gerade wenn es auf eine Prüfung zugeht, erleben wir regelmäßig, dass junge Menschen, die sich bis dahin informell und völlig frei gebildet haben, den prüfungsrelevanten Stoff innerhalb weniger Monate meistern. Sie erzielen Prüfungsergebnisse, die mit denen von Schülern vergleichbar sind, obwohl sie sich vorher scheinbar gar nicht oder wenig mit „schulischen“ Themen beschäftigt hatten.
Zu unseren wichtigsten Aufgaben gehört es daher, über die informellen Lernprozesse, die sich nach außen hin oft nicht einfach erschließen, aufzuklären. Oft gilt es im Alltag weniger, diese Prozesse aktiv zu „fördern“. Oft ist diese gutgemeinte „Hilfe“ eher eine Behinderung für den Bildungsweg junger Menschen, die informell lernen. Zugleich gilt es, die Momente zu erkennen, wo Beratung und Hilfestellung angebracht sind.
Übergang zu strukturiertem Lernen
Oft entscheidet sich ein junger Mensch nach einer Phase der informellen, freien Bildung, dass er (wieder) eine Schule besuchen will, um sich auf einen Abschluss vorzubereiten. Oder der Abschluss wird ohne Schulbesuch angestrebt. Verbreitet ist die Annahme, dass diese jungen Menschen große Probleme bekommen, sich wieder in einen strukturierten Rahmen einzufügen. Unsere Erfahrung zeigt das Gegenteil: Da die Betroffenen gelernt haben, sich eigenverantwortlich Wissen anzueignen und sich zu strukturieren, gestaltet sich der Übergang von informellem hin zu strukturiertem Lernen bei den meisten jungen Menschen praktisch problemlos.
Anders verhält es sich oft bei jungen Menschen, die vorher eine Schule besucht haben und sich nach einigen Jahren weigern, dort weiter hinzugehen.
Begleitung von Schulaussteigern/Schulverweigerern
Junge Menschen, die die Schule verweigern, werden in unserer Gesellschaft als Problemfälle angesehen. Es wird angenommen, sie seien unreif, renitent oder psychisch krank. Bei den jungen Menschen, die sich an uns wenden, werden von schulischer, ärztlicher und behördlicher Seite fast immer nur folgende Gründe für die Verweigerung schulischen Lernens genannt: die häusliche Situation, die Beziehung zu den Eltern und/oder Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen. Dass die Schulerfahrungen bzw. die Struktur der Schule selbst und der Zwang zum Schulbesuch einen Anteil an dieser Verweigerung haben, wird meist nicht berücksichtigt. Daher haben die „Schulverweigerer“, deren Eltern sich an uns wenden, meist einen jahrelangen Leidensweg hinter sich. Bei der Vielzahl der Maßnahmen zur Rückführung in die Schule steht selten der junge Mensch mit seinen Interessen und Bedürfnissen im Mittelpunkt, und so entsteht ein Teufelskreis von Misserfolg, Verweigerung und Bestrafung. Es ist für die Familien oft schwer, dem ohne Hilfe von außen zu entkommen.
Wir machen die Erfahrung, dass bei jungen Menschen, die den Schulbesuch erst nach Jahren „erfolgreich“ verweigert haben, häufig Blockaden vorhanden sind, die sich auf alles beziehen, was nur entfernt an den Schulstoff oder schulische Struktur erinnert. Im Hinblick auf das oben Geschilderte scheint uns das sehr verständlich! Unsere Arbeit hat uns gezeigt, dass es in solchen Fällen wichtig ist, sehr behutsam vorzugehen. Oft ist eine lange Phase der Selbstfindung nötig, in der Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten aufgebaut werden kann, bevor es sinnvoll ist, eine Prüfung anzugehen. Für Eltern, die ja den schulischen Leidensweg in der Regel mitgehen müssen, ist es oft schwer, hier das nötige Vertrauen aufzubringen. Darum ist es wichtig zu betonen: Der Prozess der Neuorientierung kann dauern! Zugleich beobachten wir, dass die Betroffenen im Hinblick auf das Lernen und auf soziale Kontakte Fortschritte machen, sobald der Druck durch die Behörden wegfällt.
Soziale Entwicklung
In Gerichtsurteilen wird immer wieder erklärt, für eine „gesunde“ soziale Entwicklung sei ein Schulbesuch nötig. Ohne jede wissenschaftliche Grundlage wird davon ausgegangen, junge Menschen, die sich ohne Schule bilden, würden asozial und seien nicht in der Lage, sich zu integrieren.
Werfen wir einen genaueren Blick auf die schulischen Rahmenbedingungen, so stellen wir jedoch fest, dass Schule ein sozial recht steriler Raum ist, der soziale Interaktion nicht fördert, sondern im Gegenteil minimiert. Junge Menschen sind über mehrere Jahre immer mit den gleichen Personen zusammen, die alle im gleichen Alter sind, und haben wenige wichtige erwachsene Bezugspersonen, die zugleich eine Kontrollfunktion übernehmen. In keinem anderen Bereich der Gesellschaft werden Menschen solchen Bedingungen ausgesetzt!
Wir gehen davon aus, dass Menschen soziale Wesen sind, die mit anderen zusammenkommen und sich mit anderen auseinandersetzen wollen. Unsere Erfahrung zeigt, dass Freilerner den Kontakt zu anderen Menschen suchen, oft zu Gleichaltrigen, aber auch zu jüngeren oder älteren Menschen. Sie vernetzen sich, nehmen am sozialen Leben in der Nachbarschaft oder an verschiedenen gesellschaftlichen Angeboten teil (z.B. Vereine) und haben in aller Regel ein reichhaltiges soziales Leben.
Anders kann es bei „Schulverweigerern“ aussehen. Sie haben oft schlechte Erfahrungen mit Gleichaltrigen gemacht und meiden nach einem Schulausstieg zunächst andere Kinder und/oder Jugendliche. Es ist wichtig, hierin kein Defizit zu sehen! Im Gegenteil, der temporäre Rückzug ist meistens Teil einer Gesundung. Wir beobachten immer wieder, dass die Betroffenen, sobald sie ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen haben, wieder Kontakt zu anderen Menschen, auch Gleichaltrigen, suchen und finden.