von Karen Kern
Schulbesuchspflicht oder Bildungspflicht
In Deutschland gibt es in allen Bundesländern eine praktisch ausnahmslose Schulbesuchspflicht. Alle jungen Menschen im Alter zwischen 6 und in der Regel 18 Jahren (in manchen Bundesländern auch noch darüber hinaus) müssen eine Präsenz-Schule besuchen. Ausnahmen werden in Deutschland nur selten akzeptiert. Die Gesetzeslage in den deutschen Bundesländern steht im Gegensatz zu der in vielen anderen Ländern. In den europäischen Ländern wie z.B. Österreich, Großbritannien, Irland, Portugal, Frankreich, Belgien, u.a. gibt es ganz unterschiedliche Regelungen. Teilweise werden Ausnahmen zugelassen, in einigen Ländern besteht eine Bildungspflicht, in wenigen eine Unterrichtspflicht, in anderen gibt es ein ausdrückliches Recht auf selbstorganisierte Bildung von zu Hause aus.
Geschichte der Schulpflicht in Deutschland
In Deutschland stellen nur wenige die Schulbesuchspflicht in Frage. Grundsätzliche Zweifel daran kommen den meisten Menschen, gerade auch Eltern, gar nicht in den Sinn, obwohl sich viele junge Menschen in der Schule in einer Situation befinden, an der sie selbst und ihre Eltern zumindest zeitweise verzweifeln. Vermutlich ist diese Überzeugung entstanden, weil in einzelnen deutschen Landesteilen schon sehr früh eine Schulpflicht eingeführt wurde. Die Anfänge gehen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken führte die allgemeine Schulpflicht als erstes 1592 ein. Viele andere Länder folgten über die nächsten Jahrhunderte hinweg, wobei es sich meistens eher um eine Unterrichtspflicht handelte. Mit der Weimarer Verfassung wurde dann ab 1919 für ganz Deutschland eine allgemeine Schulpflicht im Sinne einer Schulbesuchspflicht festgelegt wurde. In der Zeit der Weimarer Republik waren allerdings noch Ausnahmen möglich. 1938 wurde im Reichpflichtschulgesetz festgeschrieben, dass Kinder und Jugendliche, welche die Schulpflicht nicht erfüllen, der Schule zwangsweise zugeführt werden – notfalls auch mit Hilfe der Polizei. Die Möglichkeit zu einem solchen Schulzwang findet man auch jetzt noch oder wieder in den Schulgesetzen der deutschen Bundesländer. Wir haben also in Deutschland eine lange Geschichte mit Schule und Schulpflicht, die Schulbesuchspflicht ist in den gesellschaftlichen Konventionen fest verankert. In meinen Gesprächen in den letzten Jahren wurde mir klar, dass von vielen Menschen Bildung mit Schule gleichgesetzt wird. Die Bürger*innen, Politiker*innen, Behördenvertreter*innen aber auch Eltern wie Kinder können sich unter Bildung gar nichts anderes mehr vorstellen. Meist wird Bildung unterteilt in den grundlegenden, wichtigen, wesentlichen Teil, der in der Schule stattfindet und in den anderen Teil, der meist nur als Spielerei angesehen wird und in der Freizeit stattfindet.
„Ich will nicht mehr zur Schule gehen!“ – Gründe unserer Söhne
Auch wir als Eltern und auch als Lehrer*innen haben über Jahre hinweg die Schulbesuchspflicht nicht angezweifelt und uns Bildung ohne Schule zunächst auch nicht vorstellen können. Wir haben allerdings über einen längeren Zeitraum hinweg die Haltung unseren Töchtern und Söhnen gegenüber geändert und zu einem partnerschaftlichen Umgang gefunden. Dies hieß, dass wir zunehmend die Entscheidungen unserer Töchter und Söhne zu ihren eigenen Angelegenheiten akzeptierten, und bei gemeinsamen Entscheidungen diese auch gemeinsam trafen. Daher hat uns das Thema „Bildung ohne Schule“ irgendwie ganz plötzlich getroffen, als zwei unserer Söhne mit 11 und 14 Jahren gesagt haben, dass sie künftig ohne Schule lernen wollen. Die Gründe waren unterschiedlich, aber für uns Eltern sehr wohl nachvollziehbar. Und wir hatten den Eindruck, wenn wir unsere Söhne nicht in dieser Entscheidung unterstützen, dann würde dies auch unsere Beziehung gefährden. Einer unserer Söhne wurde jahrelang gemobbt. Wir haben intensiv versucht, innerhalb des Systems etwas zu machen, um seine Situation zu verbessern. Regelmäßige Gespräche mit Lehrkräften und Schulleitungen, regelmäßige Besuche und Gespräche bei der schulpsychologischen Beratungsstelle, zwei Schulwechsel, eine mehrwöchige sozialpsychologische Kurz, u.a. haben die Situation unseres Sohnes leider nicht verbessert. Die Gespräche mit den Lehrkräften und den Schulleitungen der staatlichen Schulen waren eher demotivierend. Entweder haben die Lehrkräfte und Schulleitungen geleugnet, dass Mobbing stattfindet, bzw. sie haben es nicht bemerkt, oder es wurde uns gesagt „Ihr Sohn macht doch auch was!“. Seine Klassenlehrerin an der letzten Schule, einer Waldorfschule, hat sich allerdings stark für eine Änderung der Situation eingesetzt. Sie hat z.B. ein Anti-Mobbing Programm eingeleitet. Allerdings war die Situation schon so stark fortgeschritten, dass auch unser Sohn auffällige Verhaltensweisen entwickelt hatte, die seine Mitschüler dazu animiert haben, ihn weiterhin zu mobben. Unser jüngerer Sohn hatte schon zu Beginn der ersten Klasse gesagt, dass er nicht mehr in die Schule gehen will. Nach einer Spieltherapie ist er dann ein halbes Jahr später doch zur Schule gegangen. Er hat seitdem immer wieder gesagt, dass er ohne Schule besser lernen würde. In der 6. Klasse kam Verschiedenes zusammen. Er wollte nicht weiter in einem Klima lernen, in dem für die unterschiedlichen Altersgruppen so unterschiedliche Regeln herrschten wie für Schüler*innen und Lehrer*innen, wie z.B. dass Schüler*innen für das Zuspätkommen bestraft werden, Lehrkräfte aber nicht. Außerdem war seine Mathelehrerin krank und die Klasse hatte über mehrere Monate hinweg ständig andere Vertretungslehrkräfte. Der Lehrer, den sie dann in Klassenstufe 6 bekamen, hat sich den Schüler*innen gegenüber ständig ungerecht verhalten. Nachdem er die gesamte Klasse für etwas bestrafte, was diese gar nicht getan hatte, wollte unser Sohn dies nicht mehr weiter mitmachen. Er sagte auch, dass er seine Bildung lieber selbst in die Hand nehmen will, anstatt weiter Unterricht zu haben.
Nicht nur unsere Söhne!
So wie unseren Söhnen geht es auch heute noch vielen jungen Menschen. Sicher würden nicht alle dieser jungen Menschen einen Bildungsweg ohne Schule gehen wollen. Und auch viele Eltern hätten entweder nicht die Kapazität, oder würden sich mit der Situation überfordert fühlen. Dennoch sollte es für junge Menschen die Möglichkeit geben, sich ohne Schule bilden zu können, wenn die Situation in der Schule für sie nicht stimmig ist oder sogar ihr körperliches und/oder psychisches Wohl gefährdet. Für viele würde es wahrscheinlich ausreichen, wenn sie sich für mehrere Wochen, oder ein paar Monate oder ein, zwei Jahre ohne Schule bilden könnten. Wäre so etwas selbstverständlich, dann wäre es auch nicht mehr mit dem Stigma Schulverweigerung oder Schulangst/Schulphobie und der entsprechenden Pathologisierung verbunden, mit denen junge Menschen, die sich selbstorganisiert bilden, fast automatisch versehen werden. Dann wäre die selbstorganisierte Bildung ein ganz normaler Bildungsweg.
Recht auf Selbstbestimmung bei der eigenen Bildung
Für mich ist allerdings wichtig, dass es nicht um eine paternalistische Maßnahme in besonderen Situationen geht, sondern um das Recht der jungen Menschen auf Mitbestimmung und Selbstbestimmung. D.h., dass nicht nur Ausnahmen genehmigt werden, z.B. für junge Menschen, denen es schlecht in der Schule geht, sondern dass junge Menschen das Recht zugesprochen bekommen, sich auch auf einem anderen Weg zu bilden als nur in der Schule, wenn sie sich selbst dafür entscheiden. Unsere Gesellschaft spricht jungen Menschen die Urteilsfähigkeit ab, solch weitreichende Entscheidungen zu treffen. Meine Erfahrung ist, dass junge Menschen sehr wohl hierzu fähig sind, vor allem wenn ihnen dies von den sie begleitenden Erwachsenen zugetraut wird. Ich habe erlebt, dass auch schon Fünfjährige oder sogar jüngere Menschen sehr klare und weise Entscheidungen treffen, wenn sie von Anfang ihres Lebens an ernst genommen werden. Natürlich sollte nach einer solchen Entscheidung klar sein, dass für eine Umgebung und Begleitung gesorgt ist, die es den jungen Menschen ermöglicht, sich zu bilden.
Belehrung ist nicht notwendig
Ich gebe zu, dass es mich zuweilen ungeduldig macht, diese Diskrepanz auszuhalten zwischen meiner Haltung, den jungen Menschen ernst zu nehmen, Vertrauen in seine Lernfähigkeit zu haben und seine Entscheidungen zu respektieren und der Haltung vor allem von Politiker*innen und Behördenvertreter*innen, dass der junge Mensch unmündig sei, sich auch dementsprechend verhalte und belehrt werden müsse.
Meine Kinder haben mir schon gezeigt, wie immens lernwillig und lernfähig sie sind, wie schnell und zum Teil tiefgehend sie sich etwas aneignen, wenn es sie interessiert, und wie kreativ sie mit Herausforderungen umgehen. Die jungen Menschen, die ich und meine Kolleginnen betreuen, zeigen mir dies ebenso wie meine vier Enkel, die in jeder Hinsicht die reinsten Kraftbündel sind, deren Kreativität und Neugier so überbordend ist, dass es die Eltern und uns Großeltern häufig überfordert. Bei meinen Enkeln beobachte ich wieder, wie diese Entwicklung von sich aus geschieht, wie die im Menschen angelegte Lernfähigkeit sich mit unermüdlichem Drang umsetzt – wie in den ersten sechs Jahren fast alles von selbst entwickelt wird, wie z.B. krabbeln, laufen, stehen, gehen, sprechen. Wie in der Interaktion mit anderen Menschen, jungen wie alten, die verschiedenen Konzepte über unsere Welt entstehen und das soziale Miteinander praktiziert und geübt wird. „Warum sollen Kinder ab dem Alter von 6 Jahren nicht so weiterlernen?“ So oder ähnlich hat das Alan Thomas, ein von mir geschätzter, mittlerweile emeritierter Psychologieprofessor der University of London gesagt, der umfangreiche Studien zur Bildung zu Hause durchgeführt hat, unter anderem zu informeller Bildung.
Forderung nach Öffnung unseres Bildungssystems
Wieder zurück zu meiner Frage „Muss Bildung ohne Schulbesuch für jungen Menschen in Deutschland möglich sein?“ Ja, es sollte schon lange möglich sein, dass sowohl junge Menschen selbst als auch ihre Eltern zusätzlich zum schulischen Bildungsweg einen Bildungsweg ohne Schule wählen können. Junge Menschen muss die Möglichkeit zugestanden werden, selbstbestimmt und selbstorganisiert zu lernen. Ebenso sollte ihnen ein Weg ohne Schule zur Verfügung stehen, wenn der von ihnen eingeschlagene schulische Weg sie krank macht. Denn sonst wandern Familien ins Ausland ab oder werden stigmatisiert. Obwohl sie sich für ihr Kind einsetzen, bekommen sie eventuell noch das Sorgerecht entzogen.
Forderung nach Öffnung unseres Bildungssystems
Wieder zurück zu meiner Frage „Muss Bildung ohne Schulbesuch für jungen Menschen in Deutschland möglich sein?“ Ja, es sollte schon lange möglich sein, dass sowohl junge Menschen selbst als auch ihre Eltern zusätzlich zum schulischen Bildungsweg einen Bildungsweg ohne Schule wählen können. Junge Menschen muss die Möglichkeit zugestanden werden, selbstbestimmt und selbstorganisiert zu lernen. Ebenso sollte ihnen ein Weg ohne Schule zur Verfügung stehen, wenn der von ihnen eingeschlagene schulische Weg sie krank macht. Denn sonst wandern Familien ins Ausland ab oder werden stigmatisiert. Obwohl sie sich für ihr Kind einsetzen, bekommen sie eventuell noch das Sorgerecht entzogen.
Mehr zur juristischen Betrachtung des Themas findet ihr im Podcast „Bildung mal anders“ in dem der Rechtsanwalt Jost von Wistinghausen interviewt wird.
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