von Karen Kern
Deschooling
Kinder und Jugendliche, die durch die Schule stark blockiert oder sogar traumatisiert sind, brauchen eine mehr oder weniger lange Zeit der Entschulung (bzw. des Deschooling). Egal welche Vorstellung Eltern von der Art der Bildung haben, sei dies strukturiertes Lernen oder selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung, kann die erste Phase, nachdem die Kinder und Jugendlichen zu Hause geblieben sind, als ganz schön anstrengend erlebt werden. In dieser Zeit ist es normal, dass der Bildungsalltag nicht dem Bild entspricht, welches sich Eltern davon gemacht haben. Sehen sie dann einen jungen Menschen, der nicht weiß, was er will, dem langweilig ist oder der sich exzessiv mit Computerspielen beschäftigt, kann dies Angst machen. In dieser Phase ist es in meinen Augen sehr wichtig, dem Kind oder dem Jugendlichen Vertrauen entgegenzubringen, das Vertrauen darin, dass sie wieder zu sich und dann auch ihren Weg finden.
Wird aufgrund von elterlicher Angst ständig Druck gemacht, dass die jungen Menschen jetzt doch endlich anfangen sollen zu lernen, kann dies rasch zum Beziehungskiller werden, Auseinandersetzungen folgen und die gewünschten Veränderungen können erstmal in weite Ferne rücken.
Herausforderung für Eltern
Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung verträgt sich nicht mit einem hierarchischen Familiengefüge, in dem die Eltern die allwissende, regel- und tonangebende Rolle einnehmen. Lassen Eltern in einem Bereich ein großes Maß an Selbstbestimmung zu, dann wird dies auch in anderen Bereichen von den jungen Menschen eingefordert. Viele Eltern, die sich mit den Themen „Freilernen“ und „selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung“ schon beschäftigt haben, haben sich auch mit einer anderen Art des Umgangs mit ihren Kindern beschäftigt. Dennoch können auch bei diesen im neuen Bildungsalltag zu Hause wieder herausfordernde Situationen entstehen. Auch bei Eltern, die sich erstmal vor allem Homeschooling vorstellen können, stellen sich herausfordernde Situationen ein, gerade wenn die Kinder sich gegen „Unterricht“ stellen und bei schulischen Arbeitsmaterialien streiken. Wenn sie dann einen offeneren Weg gehen wollen, dann kann es sein, dass auch im Beziehungsbereich Änderungen notwendig werden, hin zu einem gleichberechtigteren Miteinander.
Auch wenn sich die Einstellung und das Verhalten gegenüber jungen Menschen in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten geändert hat, bestimmen häufig noch tradierte gesellschaftliche Sichtweisen den Erziehungs- und Bildungsbereich, viele Einstellungen werden unhinterfragt übernommen und weitergegeben. Tradierte Sichtweisen zu hinterfragen und dann daraufhin sein Verhalten zu ändern, kann erstmal zu großer Unsicherheit führen, vor allem, wenn Eltern eher autoritär mit ihren Kindern umgegangen sind. Selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildung ist meines Erachtens auf dieser Grundlage nicht möglich. Daher kann gleichzeitig zur Unsicherheit in der Bildung auch eine Unsicherheit auf der Beziehungsebene kommen.
Um hier einen Übergang gut zu meistern, braucht es die Fähigkeiten Akzeptieren, Wahrnehmen, Zuhören und Vertrauen. Falls Eltern sich in immer wieder gleichen Auseinandersetzungen finden, kann auch eine Beschäftigung mit gewaltfreier Kommunikation mit Kindern sinnvoll sein.
Akzeptieren
Zum Akzeptieren gehört, zu erkennen, dass es Zeit braucht, bis die Tochter oder der Sohn in sein neues Leben hineingefunden hat. Die meisten von uns „Erwachsenen“ haben selbst schon Brüche in ihrem Leben durchlebt und wissen aus eigener Erfahrung, dass bei einem raschen Wechsel von einer Lebenssituation in eine neue Situation Anfangsschwierigkeiten bewältigt werden müssen. Wenn wir uns bewusst machen, welch grundlegende Änderung beim Wechsel von einer überwiegend fremdbestimmten Bildungssituation hin zum Übernehmen der Verantwortung für die eigene Bildung stattfindet, kann es nicht verwundern, wenn es (hin und wieder) Probleme gibt. Ich würde es mit der Situation eines Erwachsenen vergleichen, der sich nach einer Zeit im Angestelltenverhältnis selbstständig macht. Nachdem jemand bisher zugewiesene Aufgaben abgearbeitet hat, ist er plötzlich für alle Bereiche selbst verantwortlich, muss selbstständig strukturieren und organisieren. Die eigene Bildung für sich selbst wieder zu erobern, kann eine ähnliche Herausforderung sein.
Wahrnehmen
Zum Wahrnehmen gehört, Verletzungen zu erkennen und den jungen Menschen dabei zu begleiten, diese zu überwinden. „Zeit heilt alle Wunden“ heißt es. Oft genug habe ich beobachtet, dass dies auch in diesem Bereich zutrifft. Das heißt nicht, dass wir oder unsere Tochter, unser Sohn nicht auch Hilfe in Anspruch nehmen können, wenn die Verletzungen zu tief sind. Aber in jedem von uns stecken enorme Selbstheilungskräfte, die uns helfen, zu gesunden. In dieser Zeit braucht es zeitweise feine Fühler, um die Interessen und Bedürfnisse der eigenen Töchter und Söhne zu erspüren, um sie dabei zu unterstützen, diese zu verwirklichen. Wird dies von den Eltern nicht als Pflichterfüllung aufgefasst, können sie dabei für sich selbst auch Vorteile aus der Situation ziehen und Begeisterung für unbekannte oder vernachlässigte Bildungsthemen finden. Auch kann es großen Spaß machen und die Beziehung fördern, Themen gemeinsam zu erkunden oder gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden. Manche jungen Menschen empfinden jegliche Vorschläge vonseiten der Eltern als Einmischung. Dann kann es heißen, sich selbst in Geduld zu üben und diese ihrem eigenen Prozess zu überlassen. Langeweile, lang genug ausgehalten, führt meiner Erfahrung nach auch zu neuen Ideen.
Wenn die Situation eine Therapie erfordert, dann braucht es verständnisvolle Therapeut*innen, die auch über den schulischen Kontext hinausblicken können. Normalerweise ist im Kontext von Schulverweigerung aus therapeutischer Sicht die Wiedereinschulung notwendig und eines der Haupttherapieziele. Daher kann es eine Weile dauern, bis Eltern therapeutische Unterstützung finden, die nicht diesen Weg als notwendig ansieht, sondern mit dem Kind oder Jugendlichen daran arbeitet, die aufgebauten Ängste, Traumatisierungen und Blockaden zu überwinden.
Vertrauen schaffen
Wenn junge Menschen einen langen schulischen Leidensweg hinter sich haben, bis die Eltern sich entschieden haben, sie auf dem Bildungsweg ohne Schule zu unterstützen, kann es sein, dass bei den jungen Menschen viel Vertrauen zu ihren Eltern verloren gegangen ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies erst wieder aufgebaut werden muss.
Einer meiner Söhne ist über Jahre hinweg gemobbt worden. Wir haben alle möglichen Dinge unternommen, um ihm dabei zu helfen, mit dieser Situation klar zu kommen. Die Idee, dass er sich ohne Schule bilden kann, kam uns lange Zeit nicht. Vorher sind wir gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Bildung ohne Schule überhaupt eine Möglichkeit sein könnte. In der Schulzeit (vor allem auch vor dem Ausstieg) war ich häufig überfordert und habe dadurch sehr unterschiedliche und widersprüchliche Botschaften ausgesandt. Sätze wie „Ich will meine Ruhe haben! Mach doch einfach, was die Lehrer sagen! Verhalte dich so unauffällig wie möglich!“ führen leider dazu, dass sich das eigene Kind allein gelassen fühlt. Wenn dann zwischenrein wieder unterstützende Botschaften kommen, dann führt dies beim jungen Menschen zu großer Verunsicherung. Eine solche Verunsicherung kann beim Kind oder Jugendlichen zu einem für Eltern herausfordernden Verhalten führen, auch zu einer herausfordernden Deschoolingphase für beide – Eltern und Kinder. Es braucht Zeit, bis der Sohn, die Tochter wieder Vertrauen fasst und den Eltern gegenüber Offenheit zeigen kann. Meiner Erfahrung und Beobachtung nach ist es hier hilfreich, als Mutter, Vater oder andere Bezugsperson mit dem Vertrauen eine Art Rahmen bereit zu stellen oder zu halten.
Zuhören
Es ist einfach, zu sagen, dass Vertrauen in den jungen Menschen das Wichtigste für ihn und den Bildungsprozess ist. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es nicht immer einfach ist, dieses Vertrauen zu halten. Es macht Angst (auch wenn diese vielleicht erstmal nur als Wut oder Ärger gespürt wird), wenn der junge Mensch erst nachmittags aus dem Bett kommt und dann sogleich vor dem Computer verschwindet und womöglich jedes Gespräch vermeidet. Wenn durch ein solches Verhalten des Kindes Ärger zu spüren ist, dann passiert es schnell, dass dieser sich unangemessen äußert.
Ich habe es als verbindend erlebt, Ärger, Wut oder Angst meinen Kindern gegenüber auszudrücken und mit ihnen dann ins Gespräch zu kommen. Dies führt zum Zuhören. Die Angst zu nutzen, um ins Gespräch zu kommen, setzt allerdings voraus, unsere Ängste und Befürchtungen zu hinterfragen. Welches Verhalten löst die Angst aus? Ist diese Angst begründet? Junge Menschen haben feine Fühler und spüren diese Angst und kämpfen, wenn diese nicht ausgesprochen wird, zum Teil auch dagegen an.
Daher kann das Aussprechen der eigenen Angst dazu führen, dass die jungen Menschen schildern, wie es ihnen geht und wie sie es erleben. Ich bin da oft auf große Klarheit bei meinen Kindern gestoßen, und konnte so die Angst wieder ablegen. Falls es Konflikte oder Probleme gibt, können dann auch alle gemeinsam schauen, wie mit dieser Situation umzugehen ist. In der Regel finden sich Lösungen, mit der alle zufrieden sind.
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