„Mama, das heißt ‘Rebekka‚!“, sagte vor mehreren Jahren meine dreijährige Enkelin zu ihrer Mutter, nachdem sie eine ganze Tafel voll mit Kringeln gemalt hatte. Bögen, Kreise, Kringel, Schlingen, Zickzack, Schlangenlinien, Punkte, … – so beginnen viele junge Menschen, sich mit Schrift auseinanderzusetzen. Und sie geben diesen Zeichen dann eine bestimmte Bedeutung, meist der eigene Name, der Name von Geschwistern, Mama, Papa oder deren Namen.
Ich durfte diesen Prozess bei meinen beiden Töchtern schon während meines Lehramtsstudiums zu verfolgen. Da ich Deutsch für den Anfangsunterricht studierte, war das für mich besonders spannend. Beide Töchter haben schon früh angefangen, sich mit Buchstaben und Schrift zu beschäftigen, die eine mit zwei Jahren, die andere mit drei Jahren. Beide wurden von unserer gesamten lesebegeisterten Familie unterstützt, sie durften mit Oma, die Grundschullehrerin war, schon früh in die Schule und den reichhaltigen Materialfundus des Klassenzimmers nutzen, um ihre Schreibexperimente zu gestalten. Das abendliche Vorlesen gehörte bei allen unseren Kindern zum Bettgeh-Ritual.
Für mich war es eine Entdeckungstour, zu erleben, wie sich diese jungen Menschen Buchstaben und Schrift aneignen: Zeichen und Wörter zu erkennen, sich den Sinn zu erschließen, aus 26 einzelnen Buchstaben durch unterschiedliches Aneinanderreihen jeweils ganz neue Gebilde – Wörter – mit jeweils eigenen Bedeutungen entstehen zu lassen usw. Und setzen wir diese Wörter in Form von Sätzen und Texten zusammen, entstehen nochmals ganz neue Einheiten und Zusammenhänge – Zusammenhänge, die uns neue Welten erschließen lassen, uns mit anderen in Kommunikation treten lassen, uns über Dinge reflektieren lassen, und vieles andere mehr.
In Diskrepanz zu der Beobachtung bei meinen Töchtern standen die Methoden, die mir an der Pädagogischen Hochschule in meinem Fach „Anfangsunterricht“ vermittelt wurden. Im Anfangsunterricht – Erstlesen, Erstschreiben und Erstrechnen – stritten sich die Befürworter der Ganzwortmethode mit den Befürwortern der Silbenmethode darum, welche nun die bessere sei, um jungen Menschen in der Schule Lesen und Schreiben beizubringen. Auf der einen Seite die Beobachtung des natürlichen Prozesses bei meinen Töchtern und auf der anderen Seite die verschiedenen „besten“ Methoden, von denen ich bei meinen Töchtern nichts erkennen konnte – es war mir nicht möglich, beides miteinander in Verbindung zu bringen. Auch beobachtete ich während meiner Praktika in verschiedenen Schulen, dass jeweils einige Kinder in den Klassen mit diesen Methoden das Lesen erlernten, andere aber den Sinn von Buchstaben und Schrift auf diese Art einfach nicht erfassten. Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Methoden als jeweils die passende Methode für jeden Schüler kamen bei mir schon recht früh auf. Warum wurde hier etwas als „sichere“ Methode propagiert, das für meine Töchter nicht zutraf und bei einigen Kindern jedes Jahrgangs nicht funktionierte?
Gegen Ende meines Studiums lernte ich die Konzepte von Professor Hans Brügelmann für den Anfangsunterricht und den Schriftspracherwerb kennen. Das offene Unterrichtskonzept, in dem der Prozess jedes einzelnen jungen Menschen gewürdigt wird und dieser darin so individuell, wie Schule es erlaubt, gefördert wird, hat mich stark angesprochen und ich konnte mir damals sogar vorstellen, nach meiner Ausbildung auf diese Art auch in der Schule zu arbeiten. Grundlage des Konzepts war der Spracherfahrungsansatz, der schon in den sechziger Jahren in der Alphabetisierungsarbeit mit benachteiligten Gruppen entstand. Grundlage beim Schriftspracherwerb sind die eigenen Erfahrungen. Geschrieben wird über die Dinge und Geschehnisse, die einen selbst betreffen. Nach diesem Ansatz erarbeitete Brügelmann zusammen mit anderen ein Konzept für den Anfangsunterricht, in dem es sowohl Angebote für alle gemeinsam gab, wie zum Beispiel das Kennenlernen der einzelnen Buchstaben, es aber dennoch bei jedem einzelnen Schüler lag, die Schrift für sich selbst zu entdecken. Voraussetzung hierfür war ein offener Unterricht. In Studien unter anderem an Vorschulkindern fanden sie auch heraus, dass die Aneignung der Schrift in mehreren Phasen hin zu einem der orthografischen Norm entsprechenden und deswegen als „richtig“ bezeichneten Schreiben verläuft, die jeder Schüler durchläuft. Über das rudimentäre Erfassen und Wiedergeben von Schrift, wie zum Beispiel ganz am Anfang eine nach Vokalen oder nach Konsonanten ausgerichtete Schreibweise, oder danach die Erarbeitung von Regeln über „falsche“ Schreibweisen, näherte sich der Schreibanfänger der orthographisch richtigen Schreibweise an. Anhand der „Fehler“, die ein Schüler vorwiegend macht, ist es Lehrern möglich, zu sehen, an welcher Stelle der Schüler in seinem Schriftspracherwerb steht, was eine individuelle Förderung ermöglicht. Allerdings stand diese Förderung zumindest in der Anfangsphase des Schriftspracherwerbs nicht im Vordergrund; Brügelmann forderte, Fehler zuzulassen. Zu der damaligen Zeit war dieser Ansatz ein völliges Novum, der aber wesentlich besser zu dem passte, was ich bei meinen eigenen Kindern beobachtete. Auch entstanden aus diesem offenen Ansatz heraus viele Materialien, die mir gefielen und die wir uns zum Teil auch für zu Hause zulegten wie zum Beispiel die Regenbogenlesekiste, eine Reihe von Büchlein, die nach Schwierigkeitsgraden aufgebaut ist. Später, während meines Aufenthalts in England, stellte ich fest, dass dort nur mit solchen Lesebuchreihen gearbeitet wird. Diese sind kein speziell entwickeltes Schulmaterial, sondern es gibt eine große Auswahl an Geschichten und Sachbüchern von mehreren Verlagen, die für jeden frei erhältlich sind.
Ich finde diesen Ansatz immer noch stimmig, habe ich doch erlebt, dass viele junge Menschen sich die Schrift auf diese Weise angeeignet haben. Allerdings war mir auch klar, dass dieser Spracherfahrungsansatz für Schulen entwickelt wurde, in denen kontinuierlich an den Fertigkeiten Lesen und Schreiben gearbeitet wird und der Schriftspracherwerb möglichst bis zum Ende der ersten beiden Schuljahren abgeschlossen sein sollte, weil ab dem dritten Schuljahr für den weiteren Unterricht die Beherrschung der Schriftsprache vorausgesetzt wird. Das führte meines Erachtens dazu, dass entgegen dem Rat Brügelmanns, Fehler zuzulassen, doch häufig ein in meinen Augen zu starker Blick auf die Rechtschreibförderung gelegt wurde.
Durch meine Beobachtungen zu Hause wurden mir wesentliche Aspekte bewusst:
Heute beobachte ich, dass Brügelmanns Konzept kaum noch in den Schulen gelebt wird.
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